Was Kinder heute wirklich brauchen.
Vier Haltungen sind es, die sich Kinder von ihren Eltern wünschen, sagt Pädagoge Jan-Uwe Rogge. Vergleiche mit anderen Kindern, Überbehütung und ständige Beobachtung gehören da nicht dazu.
„Erziehung hat mit Lachen zu tun“, sagt Jan-Uwe Rogge – und kein Erziehungsredner könnte diese Botschaft besser vermitteln als er. Rogge zitiert den Pädagogen Pestalozzi aus dem Jahr 1778:
„Lache dreimal am Tag. Über dich, lass das Kind lachen und lacht gemeinsam! Seid nicht immer so pädagogisch wertvoll!“
Die hunderten Eltern, die Rogges Vortrag lauschen, lachen Tränen. Endlich ein Experte, der erfrischend direkt und humorvoll anspricht, was Eltern hören wollen und sollen: was Kinder abseits von allem angeblich „pädagogisch Wertvollen“ wirklich brauchen.
„Du hast das Kind, so wie es ist – und das gilt es anzunehmen. Auch du musst dich so annehmen, wie du bist. Erziehung hat nichts zu tun mit ziehen, sondern mit Beziehung“, sagt Rogge. In der chinesischen Pädagogik gibt es ein Sprichwort: Du schaust dem Gras beim Wachsen zu. Du ziehst nicht am Grashalm, denn dann reißt du ihn meistens aus.
Der Pädagoge arbeitet seit Jahren mit Eltern und Kindern in der Erziehungsberatung. „Wenn ich Kinder frage: Was wünscht ihr euch?“, sagt Rogge, dann gebe es vier Dinge, die sie sich von ihren Eltern wünschen.
1. Nehmt mich an, wie ich bin.
„Was ich so schön finde: Der Petrus da oben, der für die Vergabe der Kinder auf der Welt verantwortlich ist, hat mit einer unnachahmlichen Treffsicherheit das passende Kind für die passenden Eltern. Nur meistens passt’s den Eltern nicht“, bringt Rogge seine Zuhörer zum Lachen. Eltern dürfen darauf vertrauen, dass sie das für sie passende Kind bekommen.
Diese Botschaft weiß Rogge überspitzt zu vermitteln: „Kennen Sie so Power-Eltern, so pädagogisch hyperaktive? Solche Eltern bekommen meistens als erstes Kind eine Schnecke. Eine Schnecke, die einfach nur so sitzt. Und denkt, wenn hier alle so rennen wie meine Eltern, drehen alle durch! Die einzige Person, die hier ruhig ist, bin ich. Diese Schnecke sitzt da…und schaut…sieht in drei Metern Entfernung einen Orangensaft…und denkt, der würde mir schmecken, dieser Saft. Doch bis ich als Schnecke dort bin, ist Weihnachten…“ Was nach einer Anekdote klingt, hätte Rogge auch wissenschaftlich erklären können, sagt er – „aber dann hätten Sie’s zuhause wieder vergessen.“ Die Botschaft an die Eltern also: Ich habe das Kind, so wie es ist – und so darf ich es annehmen.
„Nehmt mich an, wie ich bin“ heißt auch, dem Kind keine Rollen zuzuschreiben. Solche Rollenzuschreibungen klingen wie: „Paula ist ein Einzelkind. Ein Einzelkind!“ Oder: „Robert ist unser Sorgenkind!“
Man müsse Kindern nur lange genug Rollen zuweisen, dann würden sie die auch erfüllen. Manche kommen ihr Leben lang nicht aus der Rolle heraus.
„Du brauchst an diesem Kind nichts wiedergutzumachen“, betont Jan-Uwe Rogge vor den Eltern. Es gebe einen Satz, der ihm immer wieder zeige, dass das noch nicht gelungen ist: „Ich will doch nur dein Bestes.“ Wie klingt das für Kinder? Ein 10-Jähriger hat es mit einer Aussage deutlich gemacht: „Herr Rogge, meine Mama will mein Bestes. Was bleibt dann für mich?“
2. Vergleicht mich nicht immer.
„Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen, es sei denn, mit sich selbst“, hat Pädagoge Pestalozzi gesagt. Rogge ergänzt: „Jedes Kind kommt in seinem Tempo in diese Welt – und es will in diesem Tempo getragen werden.“ Wenn Mütter sich am Spielplatz treffen, über ihre Kinder reden und sie vor allem vergleichen, machen sie sich selbst das Leben schwer. „Manche Kinder schlafen von Anfang an durch. Manche eben nicht!“, betont Rogge.
Erziehung ist nicht die Vorbereitung auf das Leben, Erziehung ist das Leben selbst. Im Hier und Jetzt.
3. Beobachtet mich nicht immer.
Kinder wünschen sich Räume, wo sie alleine sein können. „Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit?“, fragt Jan-Uwe Rogge die Eltern. Und gibt die Antwort gleich selbst: „Da gab’s Büsche. Und dahinter lag die Kinderrepublik.“
Gar nicht leicht in einer Zeit, in der Kinder so gerne verglichen, diagnostiziert und beobachtet werden – und das ständig. „Sie machen das doch gut“, sagt Jan-Uwe Rogge zu den Eltern, „aber Kinder haben es schwer heute. Es gibt ja noch Büsche, aber heute steckt in jedem Busch eine Mutter… Kinder sind ständig unter Beobachtung, man gibt ihnen keinen Raum mehr.“ So erzählt der siebenjährige Frederik: „Wenn Papa und Mama sich nur öfter ansehen würden, dann würden sie mich nicht immer sehen!“
4. Kümmert euch auch um euch selbst.
Im Kinderlied „Hänschen klein“ sieht Jan-Uwe Rogge alle Punkte vereint. In diesem Volkslied, das im Original die Ablösung eines Kindes vom Elternhaus beschreibt, erkennt Rogge auch Weisheiten für eine Kindheit, die Kinder stark macht. Das Lied beginnt mit:
„Hänschen klein geht allein.“
„Hänschen geht! Er wird nicht gefahren. Er geht allein! Oder mit Freunden!“, Rogges Stimme überschlägt sich beinahe, so bedacht ist er darauf, diese Phrase zu betonen. Er sei doch schön, dieser Schulweg, auf dem ein Kind gemeinsam mit anderen etwas erleben kann, weil es nicht mit dem Auto hingebracht wird.
Kinder wollen miteinander reden, miteinander zu tun haben, von Gleichaltrigen lernen – ohne dabei beobachtet zu werden.
„In die weite Welt hinein.“
Das Kind will eigene Erfahrungen machen. Es ist schön, dass es Vater und Mutter gibt, sie sind der Hafen. Doch das Kind will sich im offenen Meer austoben, es kommt in den Hafen zurück, wenn ihm danach ist.
„Stock und Hut steht ihm gut.“
Jedes Kind braucht Behütung, wenn es in die Welt hinausgeht. Allerdings eine, die ermutigend ist und klingt wie: Du schaffst es! Mach’s gut! Bis später! Heute sind viele Kinder überbehütet.
„Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr.“
„…und ich denke, dass das in Ordnung ist, man darf weinen!“, sagt Rogge. Abschiedstränen seien notwendig, für Eltern sei es ja schwer: „Nach der fünften Kindergartenwoche ist aus Hänschen Hans geworden.“
„Wünscht ihm Glück.“
Eltern haben die Aufgabe, dem Kind Kraft und Zuversicht für den Lebensalltag zu geben. In der Erziehung helfe dafür eine Haltung der Dankbarkeit und der Demut. „Sei dankbar, dass du dieses Kind hast. Kinder sind Geschenke“, betont Rogge. Es gebe bloß zwei „hammerharte Phasen“, in denen die Dankbarkeit auf die Probe gestellt wird: das Trotzalter und die Pubertät…
Um Demut zu verstehen, brauche man nur an das Gleichnis vom verlorenen Sohn zu denken. Darin verspielt der Sohn sein gesamtes Erbe. Als er als armer Mann zum Vater zurückkehrt, wird er mit offenen Armen empfangen und es wird zu seinen Ehren gefeiert!
„Es ist einfach, Kinder anzunehmen, wenn sie funktionieren“, weiß Rogge. „Demut heißt, den 3-jährigen Felix auch anzunehmen, wenn er bei Billa schreiend an der Kassa liegt.“
In einem solchen Fall muss ein Elternteil sagen: „Das ist mein Kleiner, den kenn ich. Ich kenn ihn auch anders, aber so ist er auch…“
Rogge fasst zusammen: „Was Kinder heute brauchen, sind Eltern, die sich so annehmen, wie sie sind. Wenn sie das können, können sie auch ihre Kinder annehmen, wie sie sind.“
Jan-Uwe Rogge ist Bestsellerautor zahlreicher Erziehungsbücher und vielzitierter Erziehungsexperte. Beim Jako-o-Familienkongress referierte er zum Thema „Was Kinder und Jugendliche heute brauchen“.
Quelle: http://www.meinefamilie.at/erziehung/elternsein/jan-uwe-rogge-was-kinder-brauchen, 23. Februar 2016