Thursday, March 24, 2022

...Mama, Papa - fahr‘n wir in den Krieg?

Liebe Eltern, Freunde & uns unbekannte LeserInnen,

aus aktuellem Anlässen lassen wir Euch den beigefügten Artikel aus der Zeitschrift 'Erziehungskunst / Frühe Kindheit' von Andrea Wiebelitz* zukommen.
 
Herzliche und ermutigende Grüße

Rainer & Kerstin




»Papa, Mama...fahr‘n wir in den Krieg?«


"Liebe Eltern,


im Moment sind wir alle ziemlich überfordert: Zwei Jahre Pandemie durchstehen zu

müssen mit allen Konsequenzen, die die Maßnahmen mit sich brachten. Und vorbei ist

diese Krise ja noch nicht. Das hat uns alle enorm viel Kraft gekostet! Und nun müssen wir zusätzlich mit der Erschütterung durch die politischen Ereignisse umgehen lernen, mit denen keiner von uns gerechnet hatte!


Alle sind sehr betroffen von dem, was sich in der Ukraine gerade abspielt, wir leiden mit

den Betroffenen mit und suchen nach Wegen, zu helfen und zu verstehen, was da

eigentlich vor sich geht und warum. Darauf gibt es keine einfachen Antworten.

Eine besondere Empfindsamkeit haben hierbei alle, die mit kleinen Kindern zu tun haben.


Wie gehen wir in solch belastenden Zeiten mit den Kindern um?

Wie reagieren wir auf Kinderfragen zum Krieg?

Wie ehrlich soll ich antworten? Soll ich verharmlosen? An allem Wissen teilhaben lassen?

Wie bleibe ich authentisch?

Welchen Schutz brauchen Kinder?

Wie bleiben wir selbst bei Kräften, um den Familienalltag gestalten zu können?


In den letzten zwei Wochen wurde im Kindergarten relativ wenig über den Krieg

gesprochen, es gab ab und zu einige Bemerkungen von einigen Kindern. Manche

Äußerungen gaben allerdings Anlass zu Fragen und auch zu Sorgen von uns Erziehern,

wie viel manche Kinder vom Krieg erfahren und wie stark sie mit Berichten aus den

Medien konfrontiert werden.

Wir haben den Eindruck, dass manche Kinder ungefiltert Nachrichten über die Ukraine

sehen und hören und auch die Betroffenheit der Erwachsenen in ihrer Umgebung stark

überfordernd wirkt.


Deshalb versuche ich, einige der Gedanken aus einem Gespräch weiterzugeben, das in

unserem Kindergarten im kleinen Kreis mit Eltern stattgefunden hat und an meinen

Erfahrungen teilhaben zu lassen, die ich aus der Arbeit in der Notfallpädagogik in

Krisengebieten und meiner Tätigkeit im Kindergarten im Libanon gewonnen habe.

Vielleicht ist das hilfreich für die Situation im Moment.


So sehr wir es uns auch wünschen, dass unsere Kinder behütet und sorglos aufwachsen:

Es ist eine Tatsache, dass es in der Welt Konflikte, Krisen und Kriege gibt, und auch wenn

wir von den großen Weltereignissen auf unseren Alltag schauen, erleben wir

Missverständnisse, Ärger, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, die je nach

Verfassung der Beteiligten ganz handgreiflich, aber auch emotional und intellektuell oder

in guten Gesprächen ausgetragen werden.

Wie man angemessen mit Konflikten umgeht, ist ein großes Übungsfeld, auf dem wir alle

noch viel zu lernen haben!


Durch Unterhaltungen von Erwachsenen, in der Familie, beim Einkaufen, in der Bahn

oder durch größere Geschwister, die Fragen aus der Schule mit nach Hause bringen usw.,

kann es sein, dass auch Kinder vom Krieg erfahren, deren Eltern sich bemühen, diese

Themen fernzuhalten.

Sogar aus dem Kindergarten werden unter Umständen Dinge mit nach Hause gebracht,

die Sie als Eltern erstaunen lassen und betroffen machen.

Hilfreich kann es sein, wenn Sie dabei die folgenden Anregungen bei ihren Reaktionen

berücksichtigen:


Versuchen Sie, ruhig zu bleiben!

Das Kind soll das Gefühl haben, dass es den Eltern alles erzählen kann, was es bewegt.

Dass zugehört wird, ohne zu unterbrechen oder das Gespräch schnell zu beenden. Zeigen

Sie sich interessiert, fragen Sie, woher Ihr Kind davon weiß.

Sind kleinere Kinder dabei, für die die Fragen noch nicht relevant sind, kann man das

Gespräch auch verschieben: »Das ist ja sehr wichtig, was Du mir erzählst, das interessiert

mich sehr, da brauche ich richtig Zeit dafür. Das machen wir nachher, wenn der kleine

Bruder seinen Mittagsschlaf hält.« Vermeiden Sie, diese Gespräche direkt vor dem

Schlafengehen, es sei denn, das Kind fragt genau dann und will etwas loswerden, was es

bedrückt.


Nennen Sie die Dinge beim Namen!

Reden Sie nicht »um den heißen Brei herum«, wenn Ihr Kind vom Krieg erzählt. Dann

bleibt wenig Raum für wilde Phantastereien, die sonst belasten könnten.

Je nach Alter des Kindes kann man sagen: »Ja, das stimmt. Es gibt ein Land, in dem ist

gerade ein großer Streit ausgebrochen.« Oder: »Ja, da gibt es wirklich einen schlimmen

Krieg, der ausgebrochen ist, darüber bin ich sehr traurig. Zwei Länder streiten sich um ein

Gebiet und dabei geht gerade richtig viel kaputt. Zum Glück gibt es sehr viele Menschen,

die alles dafür tun, damit der Krieg wieder aufhört. Sie reden miteinander und versuchen,

eine Lösung für den Streit zu finden.«

Vermeiden Sie dabei pauschale Urteile über »die Russen«, »die Ukrainer« usw. Bei kleinen

Kindern braucht man gar keine Länder oder Verantwortliche benennen.

Hören Sie auf die Frage Ihres Kindes! Nur so viel antworten, wie auch gefragt wird. Nicht

alles eigene Wissen oder Urteile über dem Kind ausschütten.


Hoffnung ausdrücken!

Auch wenn es schwer fällt, im Moment einen Lichtblick zu sehen: Vermitteln Sie, dass es

Wege gibt, den Konflikt zu beenden. Der Konflikt ist von Menschen gemacht, also kann er

auch von Menschen beendet werden! Und die meisten Menschen auf der Welt wollen ein

friedliches Miteinander!

Bei größeren Kindern vielleicht die Frage stellen: »Was würdest Du tun, wenn Du jetzt

Bundeskanzler wärst? Wenn Du etwas bestimmen könntest?« Diese Vorschläge ernst

nehmen, nicht als naiv abtun, denn meist steckt dahinter das große Menschheitsideal von

Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, wovon Kinder intuitiv wissen!


Werden Sie aktiv!

Tun Sie etwas für andere: Kinder können ein Bild malen, auf dem die Welt friedlich und

schön ist und es verschenken. Sie können eine Kerze anzünden, beten oder einen Spruch

sagen. Sie können mit Ihrem Kind Dinge aus dem Kinderzimmer heraussuchen, die man

verschenken kann, z.B. an die Flüchtlinge, die hier bei uns ankommen. Man kann auch

spenden, vielleicht einen Betrag des Taschengeldes? In der Hauptsache hilft das anderen

Menschen und andererseits kommt man aus dem passiven Ertragen der Situation in eine

Handlung. Das ist sehr wichtig in belastenden Situationen, sich selbst als aktiven

Menschen zu erleben und nicht als ohnmächtigen.


Keine Nachrichtensendungen schauen!

Alle Bilder und Kommentare zum Krieg aus den Medien Internet, Radio, Fernsehen usw.

wirken verstörend, können von jüngeren Kindern, und damit meine ich Kinder bis 12

Jahre, nicht richtig verstanden und eingeordnet werden. Wenn Sie sich damit den Krieg in

Ihr Wohnzimmer holen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn Ihr Kind Angst

bekommt, schlecht schläft oder andere Anzeichen von Belastung bis hin zu

Traumatisierung zeigt.


Holen Sie sich Hilfe, wenn Sie das Gefühl haben, Sie kommen nicht mehr mit der

Situation klar!

Das können Ehepartner, Freunde und Verwandte sein, mit denen man sich aussprechen

kann oder auch professionelle Hilfe von Beratungsstellen. Es gibt das Phänomen der

sekundären Traumatisierung, also nicht durch selbst erlebte Katastrophen, sondern über

Berichte und Bilder! Das sollten Sie ernst nehmen.


Da sind vielleicht ein paar Tage Pause von Medien und Nachrichten ganz sinnvoll. Statt

dessen auf ausreichenden Schlaf, viel Bewegung an der frischen Luft achten und ein

bewusstes Ausrichten der Gedanken auf aufbauende Texte, z.B. Poesie, gute Literatur oder

ein Kräfte-Tanken über musikalische Eindrücke. Finden Sie etwas, das Sie beruhigt und

Ihnen gut tut. Dann können Sie sich wieder weiter mit der Situation beschäftigen und sind

stabil genug, um für die Kinder einen sicheren Rahmen bieten zu können.


Zum Abschluss noch eine kleine Begebenheit, die mir eine Mutter schilderte:


Sie selbst ist sehr engagiert im sozialen Bereich und hatte sofort nach Ausbruch des

Krieges ein Paket mit Dingen gerichtet, die wahrscheinlich in der Not der Flucht benötigt

werden und dabei sinnvollerweise auch ihre Kinder von 8 und 5 Jahren mithelfen lassen.

Auf dem Weg zur Sammelstelle fragte dann der Fünfj.hrige: »Mama, fahr‘n wir jetzt in

den Krieg?« – Diese Aussage zeigt, wie nah den Kindern alles ist! Sie haben noch keine

Begriffe von Entfernung (auch manche von uns Erwachsenen mussten ja erst einmal

schauen, wo all die Städte in der Ukraine liegen, von denen berichtet wird), von zeitlichen

Abläufen, sondern sind immer mitten im Geschehen, alles ist unmittelbar und Gegenwart.

Das müssen wir berücksichtigen. Ebenso wie die Tatsache, dass auch unsere Stimmungen

und Gefühle fein wahrgenommen werden. Schon deshalb ist ein ehrliches, aber

kindgemäßes Aussprechen der Dinge notwendig, damit es auch Sprache und Wörter gibt

für diese erspürten Erfahrungen in unserer so herausfordernden Zeit!


Ich wünsche allen viel Zuversicht in die Kräfte des Guten in jedem Menschen und im

Weltgeschehen."



*Zur Autorin: Andrea Wiebelitz ist Waldorfkindergärtnerin, Heilpädagogin und Elternberaterin.

Mitbegründerin der Kinderkrippe »Wiegestube Sonnenschein« Karlsruhe

Seminartätigkeit, Elternbildung, Notfallpädagogik in Krisengebieten, Betreuung des Waldorfkindergartens

in Beirut, Libanon, seit 2015.