Frühling. | Spring.
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
zog sich in raue Berge zurück. Von dort her sendet er, fliehend, nur
ohnmächtige Schauer körnigen Eises in Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes, überall regt sich Bildung und
Streben, alles will sie mit Farben beleben; doch an Blumen fehlt´s im
Revier, sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen nach der Stadt zurück zu sehen! Aus
dem hohlen, finstern Tor dringt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt
sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind
selber auferstanden: aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, aus
Handwerks- und Gewerbesbanden, aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
aus der Straßen quetschender Enge, aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht,
sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh
nur, sieh! Wie behend sich die Menge durch die Gärten und Felder
zerschlägt, wie der Fluss in Breit´ und Länge so manchen lustigen Nachen
bewegt, und, bis zum Sinken überladen, entfernt sich dieser letzte
Kahn. Selbst von des Berges fernen Pfaden blinken uns farbige Kleider
an. Ich höre schon des Dorfs Getümmel, hier ist des Volkes wahrer
Himmel, zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein!
- Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) -
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