Liebe Eltern, Freunde & uns unbekannte LeserInnen,
aus aktuellem Anlässen lassen wir Euch den beigefügten Artikel aus der Zeitschrift 'Erziehungskunst / Frühe Kindheit' von Andrea Wiebelitz* zukommen.Herzliche und ermutigende Grüße
»Papa, Mama...fahr‘n wir in den Krieg?«
"Liebe Eltern,
im Moment sind wir alle ziemlich überfordert: Zwei Jahre Pandemie durchstehen zu
müssen mit allen Konsequenzen, die die Maßnahmen mit sich brachten. Und vorbei ist
diese Krise ja noch nicht. Das hat uns alle enorm viel Kraft gekostet! Und nun müssen wir zusätzlich mit der Erschütterung durch die politischen Ereignisse umgehen lernen, mit denen keiner von uns gerechnet hatte!
Alle sind sehr betroffen von dem, was sich in der Ukraine gerade abspielt, wir leiden mit
den Betroffenen mit und suchen nach Wegen, zu helfen und zu verstehen, was da
eigentlich vor sich geht und warum. Darauf gibt es keine einfachen Antworten.
Eine besondere Empfindsamkeit haben hierbei alle, die mit kleinen Kindern zu tun haben.
Wie gehen wir in solch belastenden Zeiten mit den Kindern um?
Wie reagieren wir auf Kinderfragen zum Krieg?
Wie ehrlich soll ich antworten? Soll ich verharmlosen? An allem Wissen teilhaben lassen?
Wie bleibe ich authentisch?
Welchen Schutz brauchen Kinder?
Wie bleiben wir selbst bei Kräften, um den Familienalltag gestalten zu können?
In den letzten zwei Wochen wurde im Kindergarten relativ wenig über den Krieg
gesprochen, es gab ab und zu einige Bemerkungen von einigen Kindern. Manche
Äußerungen gaben allerdings Anlass zu Fragen und auch zu Sorgen von uns Erziehern,
wie viel manche Kinder vom Krieg erfahren und wie stark sie mit Berichten aus den
Medien konfrontiert werden.
Wir haben den Eindruck, dass manche Kinder ungefiltert Nachrichten über die Ukraine
sehen und hören und auch die Betroffenheit der Erwachsenen in ihrer Umgebung stark
überfordernd wirkt.
Deshalb versuche ich, einige der Gedanken aus einem Gespräch weiterzugeben, das in
unserem Kindergarten im kleinen Kreis mit Eltern stattgefunden hat und an meinen
Erfahrungen teilhaben zu lassen, die ich aus der Arbeit in der Notfallpädagogik in
Krisengebieten und meiner Tätigkeit im Kindergarten im Libanon gewonnen habe.
Vielleicht ist das hilfreich für die Situation im Moment.
So sehr wir es uns auch wünschen, dass unsere Kinder behütet und sorglos aufwachsen:
Es ist eine Tatsache, dass es in der Welt Konflikte, Krisen und Kriege gibt, und auch wenn
wir von den großen Weltereignissen auf unseren Alltag schauen, erleben wir
Missverständnisse, Ärger, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, die je nach
Verfassung der Beteiligten ganz handgreiflich, aber auch emotional und intellektuell oder
in guten Gesprächen ausgetragen werden.
Wie man angemessen mit Konflikten umgeht, ist ein großes Übungsfeld, auf dem wir alle
noch viel zu lernen haben!
Durch Unterhaltungen von Erwachsenen, in der Familie, beim Einkaufen, in der Bahn
oder durch größere Geschwister, die Fragen aus der Schule mit nach Hause bringen usw.,
kann es sein, dass auch Kinder vom Krieg erfahren, deren Eltern sich bemühen, diese
Themen fernzuhalten.
Sogar aus dem Kindergarten werden unter Umständen Dinge mit nach Hause gebracht,
die Sie als Eltern erstaunen lassen und betroffen machen.
Hilfreich kann es sein, wenn Sie dabei die folgenden Anregungen bei ihren Reaktionen
berücksichtigen:
Versuchen Sie, ruhig zu bleiben!
Das Kind soll das Gefühl haben, dass es den Eltern alles erzählen kann, was es bewegt.
Dass zugehört wird, ohne zu unterbrechen oder das Gespräch schnell zu beenden. Zeigen
Sie sich interessiert, fragen Sie, woher Ihr Kind davon weiß.
Sind kleinere Kinder dabei, für die die Fragen noch nicht relevant sind, kann man das
Gespräch auch verschieben: »Das ist ja sehr wichtig, was Du mir erzählst, das interessiert
mich sehr, da brauche ich richtig Zeit dafür. Das machen wir nachher, wenn der kleine
Bruder seinen Mittagsschlaf hält.« Vermeiden Sie, diese Gespräche direkt vor dem
Schlafengehen, es sei denn, das Kind fragt genau dann und will etwas loswerden, was es
bedrückt.
Nennen Sie die Dinge beim Namen!
Reden Sie nicht »um den heißen Brei herum«, wenn Ihr Kind vom Krieg erzählt. Dann
bleibt wenig Raum für wilde Phantastereien, die sonst belasten könnten.
Je nach Alter des Kindes kann man sagen: »Ja, das stimmt. Es gibt ein Land, in dem ist
gerade ein großer Streit ausgebrochen.« Oder: »Ja, da gibt es wirklich einen schlimmen
Krieg, der ausgebrochen ist, darüber bin ich sehr traurig. Zwei Länder streiten sich um ein
Gebiet und dabei geht gerade richtig viel kaputt. Zum Glück gibt es sehr viele Menschen,
die alles dafür tun, damit der Krieg wieder aufhört. Sie reden miteinander und versuchen,
eine Lösung für den Streit zu finden.«
Vermeiden Sie dabei pauschale Urteile über »die Russen«, »die Ukrainer« usw. Bei kleinen
Kindern braucht man gar keine Länder oder Verantwortliche benennen.
Hören Sie auf die Frage Ihres Kindes! Nur so viel antworten, wie auch gefragt wird. Nicht
alles eigene Wissen oder Urteile über dem Kind ausschütten.
Hoffnung ausdrücken!
Auch wenn es schwer fällt, im Moment einen Lichtblick zu sehen: Vermitteln Sie, dass es
Wege gibt, den Konflikt zu beenden. Der Konflikt ist von Menschen gemacht, also kann er
auch von Menschen beendet werden! Und die meisten Menschen auf der Welt wollen ein
friedliches Miteinander!
Bei größeren Kindern vielleicht die Frage stellen: »Was würdest Du tun, wenn Du jetzt
Bundeskanzler wärst? Wenn Du etwas bestimmen könntest?« Diese Vorschläge ernst
nehmen, nicht als naiv abtun, denn meist steckt dahinter das große Menschheitsideal von
Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, wovon Kinder intuitiv wissen!
Werden Sie aktiv!
Tun Sie etwas für andere: Kinder können ein Bild malen, auf dem die Welt friedlich und
schön ist und es verschenken. Sie können eine Kerze anzünden, beten oder einen Spruch
sagen. Sie können mit Ihrem Kind Dinge aus dem Kinderzimmer heraussuchen, die man
verschenken kann, z.B. an die Flüchtlinge, die hier bei uns ankommen. Man kann auch
spenden, vielleicht einen Betrag des Taschengeldes? In der Hauptsache hilft das anderen
Menschen und andererseits kommt man aus dem passiven Ertragen der Situation in eine
Handlung. Das ist sehr wichtig in belastenden Situationen, sich selbst als aktiven
Menschen zu erleben und nicht als ohnmächtigen.
Keine Nachrichtensendungen schauen!
Alle Bilder und Kommentare zum Krieg aus den Medien Internet, Radio, Fernsehen usw.
wirken verstörend, können von jüngeren Kindern, und damit meine ich Kinder bis 12
Jahre, nicht richtig verstanden und eingeordnet werden. Wenn Sie sich damit den Krieg in
Ihr Wohnzimmer holen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn Ihr Kind Angst
bekommt, schlecht schläft oder andere Anzeichen von Belastung bis hin zu
Traumatisierung zeigt.
Holen Sie sich Hilfe, wenn Sie das Gefühl haben, Sie kommen nicht mehr mit der
Situation klar!
Das können Ehepartner, Freunde und Verwandte sein, mit denen man sich aussprechen
kann oder auch professionelle Hilfe von Beratungsstellen. Es gibt das Phänomen der
sekundären Traumatisierung, also nicht durch selbst erlebte Katastrophen, sondern über
Berichte und Bilder! Das sollten Sie ernst nehmen.
Da sind vielleicht ein paar Tage Pause von Medien und Nachrichten ganz sinnvoll. Statt
dessen auf ausreichenden Schlaf, viel Bewegung an der frischen Luft achten und ein
bewusstes Ausrichten der Gedanken auf aufbauende Texte, z.B. Poesie, gute Literatur oder
ein Kräfte-Tanken über musikalische Eindrücke. Finden Sie etwas, das Sie beruhigt und
Ihnen gut tut. Dann können Sie sich wieder weiter mit der Situation beschäftigen und sind
stabil genug, um für die Kinder einen sicheren Rahmen bieten zu können.
Zum Abschluss noch eine kleine Begebenheit, die mir eine Mutter schilderte:
Sie selbst ist sehr engagiert im sozialen Bereich und hatte sofort nach Ausbruch des
Krieges ein Paket mit Dingen gerichtet, die wahrscheinlich in der Not der Flucht benötigt
werden und dabei sinnvollerweise auch ihre Kinder von 8 und 5 Jahren mithelfen lassen.
Auf dem Weg zur Sammelstelle fragte dann der Fünfj.hrige: »Mama, fahr‘n wir jetzt in
den Krieg?« – Diese Aussage zeigt, wie nah den Kindern alles ist! Sie haben noch keine
Begriffe von Entfernung (auch manche von uns Erwachsenen mussten ja erst einmal
schauen, wo all die Städte in der Ukraine liegen, von denen berichtet wird), von zeitlichen
Abläufen, sondern sind immer mitten im Geschehen, alles ist unmittelbar und Gegenwart.
Das müssen wir berücksichtigen. Ebenso wie die Tatsache, dass auch unsere Stimmungen
und Gefühle fein wahrgenommen werden. Schon deshalb ist ein ehrliches, aber
kindgemäßes Aussprechen der Dinge notwendig, damit es auch Sprache und Wörter gibt
für diese erspürten Erfahrungen in unserer so herausfordernden Zeit!
Ich wünsche allen viel Zuversicht in die Kräfte des Guten in jedem Menschen und im
Weltgeschehen."
Mitbegründerin der Kinderkrippe »Wiegestube Sonnenschein« Karlsruhe
Seminartätigkeit, Elternbildung, Notfallpädagogik in Krisengebieten, Betreuung des Waldorfkindergartens
in Beirut, Libanon, seit 2015.